S21 und Commons

Brigitte Kratzwald hat einen sehr interessanten Bericht über die INKOTA-Tagung über Gemeingüter geschrieben. Nachdem ich in der Rezension des letzten INKOTA-Briefs zum Thema der Commons den Artikel von Michael Brie dafür kritisierte, dass er völlig unvermittelt vom Öffentlichen schrieb, anstatt über Commons, machte es Rainer Rilling — wie Brie vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung — am Beispiel von S21 besser. Ich zitiere ausführlicher Brigitte, die über einen Beitrag von Rainer Rilling auf der Tagung schreibt:

»Er vertritt – wenig überraschend – eine neomarxistische Staatstheorie: „den Staat“ gibt es nicht, sondern verschiedene Staatsprojekte, der Staat ist kein neutraler Akteur. Daran kann ich gut anschließen, aber zuvor kam noch die höchst spannende Ausführung über die Stuttgarter Bäume, denn die eigneten sich wirklich exzellent für seine Absicht. Rainer meinte nämlich, anstelle des Staates sollten wir den Begriff des „Öffentlichen“ wieder stark machen und genauer bestimmen und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen „öffentlichen Gütern“ und Gemeingütern ausbuchstabieren. Und er machte dies gleich vor – an Hand des Stuttgarter Beispiels. Der Schlossgarten und die Bäume dort sind formal im Besitz der Stadt, also ein öffentliches Gut, vorher und auch jetzt noch. In dem Augenblick, wo sie gefällt werden sollten (und zum Teil ja schon sind) – und vor allem auch in Zusammenhang mit dem umstrittenen Bahnhofsprojekt – werden sie pötzlich Commons. Die Menschen reklamieren sie für sich, sie bekommen einen hohen symbolischen Wert für die Kontrolle der Menschen über ihre Stadt. Sie werden zum Symbol des Widerstandes gegen ein Projekt, das eine Mehrheit der BewohnerInnen Stuttgarts nicht will und plötzlich beginnen die Menschen Verantwortung zu übernehmen, und Ansprüche auf einen Besitz zu reklamieren, der ihnen vorher vielleicht nicht einmal bewusst war.

Vieles wird hier deutlich: es hängt nicht von der juridischen Eigentumsform ab, ob etwas ein Commons ist. In dem Fall waren die Bäume schon davor ein öffentliches Gut, aber die Menschen hatten keinen Grund gehabt, sich speziell darum zu kümmern, das erledigte, so meinten sie, die Stadt. Aber diese hat sich schlecht darum gekümmert, zumindest nich im Sinn eines Großteils der Stuttgarter, sie hat die ungeschriebenen, aber im Gefühl – und vielleicht auch im alten, unbewussten Wissen – der Menschen verankerten, Regeln nicht eingehalten. Und im Augenblick der Bedrohung haben sich die Menschen die Bäume als Commons angeeignet. Gemeingüter muss man herstellen, sie entstehen durch Aneignung, unabhängig von formalen Eigentumsverhältnissen. Man bemerkt sie oft erst, wenn es zu spät ist, wenn sie verloren, oder zumindest bedroht sind. Und sie haben auch eine wichtige soziale Funktion, sie verbinden Menschen rund um ein gemeinsames Interesse und Ziel – sie verändern die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen und die Identität der Menschen. Auch für diese gilt, was für die Uni-BesetzerInnen galt: auch wenn dieser Kampf einmal vorbei sein wird, mit welchem Ausgang auch immer, die Menschen, die dabei waren, sind nie wieder die gleichen wie zuvor.

Die Politiker verstehen von alledem, was hier passiert nichts. Aber auch so manche Politikwissenschaftler verstehen nicht worum es geht, z.B. Dieter Fuchs im Standardinterview: „Das sind Menschen, denen es finanziell gutgeht und die ganz klar und berechnend sagen: Dieses Großprojekt bringt für mich keine Vorteile, also engagiere ich mich dagegen.“ Auch der Demonstrant ist für ihn ein kühl berechnender Homo oecomonicus – aber das „davon habe ich keinen Vorteil“ gegen die Nachteile und Unbequemlichkeiten dieser Proteste aufzuwiegen, diese Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf, nicht aus der Sicht des nutzenmaximierenden Individuums.

Das schaut auch nicht gerade nach klarer Berechnung aus:

Etwas anderes ist passiert, etwas wofür die Apologeten des Marktes keine Worte haben: die Menschen in Stuttgart sind zu Commonern geworden. Es geht ihnen nicht um ökonomischen Nutzen, „es geht doch schlicht und einfach um die Frage: WEM GEHÖRT DIE STADT.“ (Winfried Wolf in seiner Rede vom 3.9.2010). Es geht um Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Menschen, die in dieser Stadt wohnen.

Die Politiker meinen, sie hätten die besseren Argumente, aber sie hätten sie nicht gut genug erklärt (das klingt sehr ähnlich wie das Argument, man müsste den Menschen die EU nur besser erklären). Die Menschen hätten nicht verstanden, dass die Region um Stuttgart dadurch als Standort aufgewertet würde. Aber die Menschen verstehen sehr wohl, es geht ihnen gerade nicht um die „Aufwertung“ des Standortes, um die Verbesserung der kapitalistischen „Verwertbarkeit“, es geht um Lebensqualität und Kontrolle über die Lebensbedingungen. Es geht um die Frage, wofür öffentliche Mittel ausgegeben werden, für einige Minuten weniger Fahrzeit, für Prestigeprojekte und „hochwertige“ Immobilien oder für den Erhalt der Nebenbahnen, für Soziales, Bildung und Gesundheit.

Den Verfechtern des Projektes aus Politik und Wirtschaft, so Winfried Wolf weiter, geht es

„seit einem Dreivierteljahrhundert um das Ziel der autogerechten Stadt, der auf Auto und schnellen Kommerz zugerichteten Stadt. Es ist keine Stadt für die Menschen. Keine Stadt für unsere Kinder. Keine Stadt, in der Kultur, Lebensfreude und Erholung
ihren Stellenwert, die großen Plätze, den öffentlichen Raum bestimmen. Nein – PLATZ DA: Da wird Platz geraubt, werden Plätze und öffentlicher Raum zweckentfremdet für Straßen, für Banken, für Kommerz.“

Es geht also nicht darum, dass die „dummen Massen“ nicht verstehen würden, dass die klugen PolitikerInnen nur das Beste für sie wollen. Eher ist es umgekehrt, die Politiker haben jedes Gefühl für die Bedürfnisse und Rechte der BürgerInnen verloren. Es geht um den alten und immer wieder neuen Konflikt zwischen Tauschwert und Gebrauchswert, zwischen individuellem Profit und der Lebensqualität aller, zwischen Sachzwängen und Gestaltungsmöglichkeiten, zwischen Repression und Autonomie, zwischen Markt und Commons. Die umgeschnittenen Bäume werden zum Symbol der Enteignung der BürgerInnen, der Beschneidung ihrer Rechte. Die Demonstrationen und Proteste sind die Reaktionen der Commoner, die das Recht in Anspruch nehmen, sich gegen die Einhegungen zu wehren. Ein Recht das ebenso alt ist, wie die Idee der Commons.«

Bei Nordwind den kompletten Artikel lesen.

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