Digital ist besser?

[geschrieben gemeinsam mit Michel]

Zu W. Paul Cockshotts und Allin Cottrells Utopie eines zentralistischen Computersozialismus

In einem Buch, das wir beide schätzen, dem polemischen Antikapitalismuspamphlet Maschinenwinter von Dietmar Dath, sind wir auf einen Buchtitel gestoßen, der uns aufhorchen ließ: Alternativen aus dem Rechner, von Dath gepriesen als Experiment, das „Undenkbare zu erwägen – eine demokratische Planwirtschaft“. Schon seit längerem auf der Suche nach interessanten Alternativmodellen zur kapitalistischen Marktwirtschaft schien uns der Vorschlag einer demokratischen, auf den Rechenkapazitäten und partizipativen Möglichkeiten des Computers und des Internets basierenden Planwirtschaft in der Tat bedenkenswert.

Der Ansatz der beiden Autoren W. Paul Cockshott und Allin Cottrell gründet auf der Idee, für jedes Produkt die jeweils zu seiner Herstellung benötigte Arbeitszeit berechenbar zu machen. Der Wert eines Produkts entspricht dann exakt der Arbeitszeit, die für seine Produktion notwendig war. Offenbar handelt es sich dabei um den Versuch einer praktischen Anwendung der Marxschen (Smithschen-Ricardoschen) Arbeitswertlehre, auf deren Grundlage die Gesamtökonomie zentral geplant werden soll. Eine tragende Rolle spielen dabei die durch die Evolution der Computertechnologie entstandenen neuen Rechenkapazitäten sowie die Möglichkeiten der Kommunikation übers Internet. (Um genauer zu sein: Vom Internet ist in dem Buch, das in den späten 80er Jahren geschrieben wurde, noch nicht die Rede; die Autoren sprechen stattdessen an verschiedenen Stellen von Fernsehgeräten, die ans Telefonnetz angeschlossen und mit Abstimmungsgeräten ausgestattet sein sollen.)

Laut Cockshott/Cottrell bestand bislang das entscheidende Problem bei der Berechnung des Arbeitswerts eines Produkts darin, dass zu seiner Herstellung zahlreiche andere Produkte notwendig sind, die selbst wieder auf anderen Produkten basieren etc. Selbst um den Wert eines Kilos Getreide korrekt zu berechnen, müssen neben der unmittelbar verausgabten Arbeitszeit der Produzentinnen noch zahlreiche andere Faktoren berücksichtigt werden, etwa die Arbeitszeit, die den verwendeten Landmaschinen oder den Getreidesilos „geronnen“ ist. Es liegt [flach] auf der Hand, dass wir uns ein manifestes Komplexitätsproblem einhandeln, wollen wir die Arbeitswerte aller Produkte errechnen, die in einer „Volkswirtschaft“ hergestellt werden.

Diesem Problem wollen C/C mithilfe moderner Computertechnik beikommen. Sie argumentieren, dass die neuen Rechnerkapazitäten alternative Rechenmethoden handhabbar machen, mit denen sich alle wirtschaftlichen Operationen einer modernen Ökonomie auf Basis der Arbeitswertlehre zentral planen lassen.

Sie meinen, dass eine zentral geplante, sozialistische Ökonomie zu größerer Gleichheit führt, weil jede Arbeiterin genau ihrer Arbeitszeit entsprechend konsumieren darf und weil es prinzipiell keinen Unterschied in der Entlohnung von verschiedenen Tätigkeiten geben soll (mit hier nicht weiter zu diskutierenden Ausnahmen bei besonders unangenehmen Arbeiten). Praktisch kann man sich das in etwa so vorstellen, dass die Arbeiterin für ihre Arbeitsstunden Gutschriften auf einer Chipkarte erhält, von der die Produkte, die sie konsumieren möchte (den Arbeitszeitwerten entsprechend) abgebucht werden. Außerdem soll das Privateigentum an Produktionsmitteln – wie in der klassischen marxistischen Lehre – aufgehoben werden, so dass Privatunternehmen und Klassenunterschiede nicht länger existieren. (Allerdings sieht das Modell dennoch weiter verschiedene Unternehmen in denselben Produktionssparten vor, die in Konkurrenz zueinander stehen.)

Ohne Kapitalistinnen (d.h. ohne Privateigentum an Produktionsmitteln + kapitalistische Akkumulation) wäre dann auch die kapitalistische Ausbeutung (die unbezahlte Mehrarbeit) Geschichte. Die Arbeiterinnen erhielten und verfügten nun über das volle Wertäquivalent der von ihnen geleisteten Arbeit – mit Ausnahme von notwendigen gemeinnützigen Abgaben (Steuern), mit denen Alterssicherung, Gesundheitssystem, Bildungssystem etc. finanziert würden.

Die Planung der Wirtschaft soll in dem System von C/C auf drei Ebenen basieren. Die erste, umfassendste Ebene ist der „makro-ökonomische Plan“. Hier werden Grundfragen entschieden: Welcher Anteil des Arbeitsaufkommens für Konsumgüter, welcher Anteil für soziale Belange, welcher Anteil für den Ausbau der Produktionsmittel verwendet werden soll. Diese Grundfragen sollen demokratisch entschieden werden. Auf der zweiten Ebene – der „strategische Planung“ – soll konkreter die Industriestruktur modelliert werden. Schließlich soll auf der Ebene der „detaillierten Planung“ die Produktion der einzelnen Güter dergestalt organisiert werden, dass dem auf den beiden höheren Ebenen ausgetüftelten Gesamtplan entsprochen wird.

Dafür muss mit einer Input-Output-Tabelle berechnet werden, wieviel von einem Produkt hergestellt werden muss, damit es in ausreichendem Maß auch als Ausgangsmaterial für ein anderes herzustellendes Produkt bereitsteht. Da das Gaußsche Eliminierungsverfahren, das gewöhnlich zur Berechnung derartiger Tabellen genutzt wird, vor kaum überwindbare Komplexitätsprobleme gestellt wäre, machen sich C/C bei ihrem Alternativvorschlag die Tatsache zu nutze, dass es sich bei der hier in Frage stehenden Input-Output-Tabelle um eine „schwach besetzte Matrix“ handelt. Für diese ließe sich ein anderes Rechenverfahren anwenden, mit dem heutige Hochleistungsrechner innerhalb weniger Minuten das korrekte Ergebnis ermitteln könnten.

Bezüglich der Frage der Allokation der nun korrekt berechneten Konsumgüter stellen sich die Autoren eine Art Markt vor. Und hier entsteht das zentrale Problem des Buches: Plötzlich tritt neben den Arbeitswert eine zweite Größe: der Gleichgewichts- bzw. der Knappheitspreis. Dieser entsteht im freien Spiel der Marktkräfte, auch wenn C/C als aufrechte Technokraten einen „Marktalgorithmus“ bestimmen. Das Prinzip bleibt aber dasselbe wie im schlechten alten Kapitalismus: Wo Monsieur Angebot (bei C/C: Konsumtion) und Madame Nachfrage (Gutscheinkonsumtion) ganz ungeniert zueinander finden, erzeugen sie den Preis. Dieser hat zwei Funktionen: zum einen rationiert er knappe Produkte und zum anderen kommuniziert er dem Produzenten, von welchem Ding mehr und von welchem weniger benötigt wird.

Wie in der reinen Lehre der Neoklassik[1] streben auch C/C einen Zustand des Gleichgewichts an, in dem Angebot und Nachfrage bzw. Konsumtion und Gutscheinkonsumtion einander genau entsprechen. Es ist der Zustand, in dem weder zuviel noch zuwenig produziert wird und jedes Individuum seine Bedürfnisse im Rahmen seiner Möglichkeiten befriedigt. Da in ihrem Computersozialismus alle Personen den gleichen Lohn erhalten, kann der Markt, so C/C, als demokratische Institution verstanden werden.

Was im neoklassischen Modell Angebot und Nachfrage aber ganz allein fertig kriegen, weil die unabhängigen Produzenten, unter denen vollkommene Konkurrenz herrscht, auf die Preissignale reagieren und ihre Produktion entsprechend anpassen, leistet bei C/C die zentrale Planungsbehörde: sie korrigiert die Knappheitspreise entsprechend der Nachfrage und erteilt Aufträge an die Produzenten. Es scheint, als ob der Plan den gleichen Zweck erfüllt wie die perfect competition im neoklassischen Modell: Er zwingt die Produzenten, die höchstmögliche Qualität zum günstigsten Preis zu liefern und genau das herzustellen, was die Konsumenten wollen. Er steuert die Verteilung der Ressourcen. Er zeigt an, in welchen Sektoren investiert werden soll.

Wie aber die [demokratische] strategische Planung und der [demokratische] Makroplan mit den demokratischen Voten am Markt zusammengehen, wollte sich uns auch nach intensivem Nachdenken nicht erschließen. Es ist auch wirklich widersinnig: Wenn der Markt wie im neoklassischen Modell funktioniert – was C/C unterstellen –, dann ist der Makroplan, vor allem aber die strategische und die detaillierte Planung, überflüssig. Wenn hingegen die Planung wirklich demokratisch organisiert wird – was C/C ebenfalls unterstellen – ist ein Markt überflüssig. Die Produzenten und Konsumenten würden demokratisch darüber abstimmen, was in welchen Mengen unter welchen Bedingungen produziert wird. Ein Votum über den Markt wäre in diesem Fall nicht mehr nötig, da die Knappheitsfrage ja schon im und durch den Plan gelöst wurde.

Überdies unterlaufen die Konzessionen ans Marktprinzip das Konzept radikaler Gleichheit / Gerechtigkeit, das C/C als den Vorteil sozialistisch-digitaler Planwirtschaften preisen: den Austausch einer Arbeitsstunde gegen eine Arbeitsstunde (die Frage, wie „kommunistisch“ das Prinzip des Warentausches an sich überhaupt sein kann, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden).

Dennoch muss man festhalten, dass es sich hier noch um die sympathischeren und grundsätzlich nachvollziehbaren Ideen des Buches handelt. Wirklich hässlich wird es aber, wenn unter der demokratisch-emanzipativen Tünche der autoritär-technokratische Kern des ganzen Entwurfes durchschimmert. Wenn sich C/C auf die positiven Erfahrungen aus Kriegszeiten berufen, in denen die Nahrungsmittelrationierung nach „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zu einer Verbesserung der Gesundheitszustandes der Bevölkerung führte und folgern „dass die Lebensmittelversorgung nicht nur geplant werden kann, sondern auch muss“, dann ist das nicht einfach ein protofaschistischer Ausrutscher – es steht symptomatisch für den gesamten Entwurf.

Der liest sich dann auch insgesamt wie die Bauanleitung für eine Art aufgehübschte DDR: Den Wirtschaftsplan besorgen die Experten; die Arbeiterinnen sind offenbar immer noch Fachidiotinnen, die bis an ihr Arbeitslebensende (oder wenigstens bis zur Umschulung) die immer gleiche Tätigkeit ausführen müssen (35 Stunden in der Woche? oder vielleicht doch besser 40?); das Problem von (nicht entlohnter) Hausarbeit wird als solches nicht überhaupt nicht erkannt. Es bestehen natürlich auch weiter die alten Nationalstaatsgrenzen (Volkswirtschaft!), die wahrscheinlich mit den bekannten alten Methoden verteidigt werden müssen etc.

Eines lässt sich nach der qualvollen Lektüre von Alternativen aus dem Rechner (schlecht geschrieben und redigiert ist es auch) jedenfalls sicher sagen: Leben wollen wir in diesem Computersozialismus nicht – dafür kämpfen schon gleich gar nicht.

Wie intelligent, informiert und im besten Sinne inspirierend man sich dem Thema Utopien/ Alternativen nähern kann, führen übrigens Elmar Altvater und Raul Zelig in Die Vermessung der Utopie – Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft vor. In feuilletonistischem Ton diskutieren Altvater, Professor Emeritus für Politische Ökonomie an der FU und Raul Zelig, Romancier, Sozialwissenschaftler und Aktivist, über den Kapitalismus, analysieren die gegenwärtige Wirtschaftskrise sowie das Scheitern des Realsozialismus und entwerfen schließlich dialogisch eine konkrete Utopie, die nicht beansprucht, das Modell für den Kommunismus des 21. Jahrhunderts zu liefern (inklusive des bis ins Detail nach „wissenschaftlichen“ Erkenntnissen ausgearbeiteten Essensplan dieses „Kommunismus“), sondern die kommende Gesellschaft lediglich thesenhaft skizziert – und damit Raum lässt für Widerspruch, Diskussionen, Ergänzungen, Revision.

„Ob Utopien tauglich sind“, heißt es bei Altvater und Zelik, „müssen wir daran messen, ob sie den Menschen ein gutes Leben ermöglichen – in ökologischer, sozialer, politischer Hinsicht. Ob sie ermöglichen, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, die Natur zu bewahren – aber auch, ob sie zu einer herrschaftsfreien Welt führen, in der die Menschen ihr Leben, auch ihr Arbeitsleben selbst gestalten können und nicht nur Untertanen sind.“

Vom Gedanken einer herrschaftsfreien Welt oder dem Traum eines guten Lebens für alle wirkt der Gesellschaftsentwurf, den C/C in Alternativen aus dem Rechner formulieren, nun gerade nicht inspiriert. Ihr „Kommunismus“ liest sich über weite Strecken beinahe so, als stamme er aus der Feder eines glühenden Antikommunisten, der eine sozialistische Gesellschaft karikiert. Sofern wir annehmen, dass es sich bei Alternativen aus dem Rechner nicht um die raffinierte Satire eines beinharten Neoliberalen handelt, der immer noch die Kämpfe der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts kämpft – was zugegeben auch einen gewissen Charme hätte – bleibt nichts als der schale Nachgeschmack einer traurigen Bürokratenphantasie, die „Kommunismus“ mit „totaler Kontrolle“ verwechselt. Nein, nein, nein, das ist nicht der Kommunismus!

Bitte, lieber Dietmar Dath, lies doch die Bücher das nächste Mal, bevor du sie anderen empfiehlst.

[1] Z.B. Léon Walras Elements of Pure Economics or the Theory of Social Wealth

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