Solidarischer Individualismus

Den folgenden Text von »Grünen Linken« re-poste ich, weil er einen interessanten Begriff in die Runde bringt: »solidarischer Individualismus«. Das klingt doch fast nach »Selbstentfaltung«, zumal auch auf das entsprechende Zitat aus dem »Manifest« verwiesen wird, wonach »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Es gibt noch einen Grund, den Text zu posten: Er ist bislang nur als PDF und nicht als Seite im Web verfügbar — voll die Medienkompetenz.

Dann gibt’s ungefähr 7462 Gründe den Text nicht zu posten, nur einer sei von der Webseite zitiert: »Wir sind kein Flügel, wir sind das Massezentrum der Partei, das diese auf den Boden ihrer Visionen zurückholt«. *ROTFL*

Aber sei’s drum. Hier der Text.

Links-libertär

Wir sind nicht mehr länger die Generation X, die den Partei- und Wirtschaftsführern zuruft: „Here we are now, entertain us“ (Nirvana). Wir waren schon bei den Ärzten und sind immer noch für Visionen. Aber das ewig uneingelöste Versprechen der Vollbeschäftigung haben wir nicht mehr anzubieten.

Wohlstand besteht für uns nicht mehr darin, „eine Arbeit zu machen, die wir hassen, um uns eine Scheiße zu kaufen, die wir nicht brauchen“ (Fight Club); nicht in einem Sozialstaat, der arm macht, der kommandiert, gängelt und kontrolliert; nicht aus einer gelenkten Demokratie und einer Politik, die ihre Visionslosigkeit als „Vermittlungsproblem“ verkauft; nicht in vermeintlich „notwendigen Grausamkeiten“.

Was wir anzubieten haben, ist Freiheit und Solidarität. Nein, ein solidarischer Individualismus ist keine Widerspruch, wir sind der Überzeugung, dass es eine Gesellschaft geben kann, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Karl Marx, 1848). Und darum nennen wir einen Krieg immer noch einen Krieg und halten Armut und Ausgrenzung immer noch für einen Skandal; darum sind wir aus Überzeugung emanzipatorisch und links, was für uns dasselbe ist.

Was wir anzubieten haben, ist soziale Gerechtigkeit, was wir wollen, ist Zugang – zu Bildung, Wissen, sozialer Teilhabe, Kultur, Information, Mobilität, Arbeit -, was wir fordern, ist – für beide Geschlechter – die Möglichkeit der freien Wahl. Wir glauben nicht mehr daran, dass die Regeln und Rhythmen der Familie, der alten Schule, der Kaserne und der Fabrik die Modelle und Hüllen für unser Leben, Lieben und Arbeiten sind, wir treten aufs freie Feld hinaus und aus der Industriegesellschaft heraus. Niemand sollte sich ein menschenwürdiges Leben erst auf einem Marktplatz verdienen müssen, ein neues soziales Fundament verlangt daher nach einer neuen Garantie.

Was wir anzubieten haben, ist keine Gesellschaft, die ihre Zukunft an die Vermögenden verschenkt, was wir daher wollen sind neue Anerkennungs- und Entlohnungsformen für Arbeit und ein Grundeinkommen für alle. Denn ohne soziale Rechte, ohne die Garantie der Teilhabe und einer materiellen Basis, bleiben für zu viele die Menschen-, Bürger- und Frauenrechte nur geduldiges Papier. Und daher ist und bleibt unser Ziel, die Beteiligung aller an politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Macht, wir nennen dies die uneingeschränkte Demokratie.

Wir glauben nicht daran, dass das Talent in die Wiege gelegt wird, denn jeder Mensch hat seine Potentiale. Was wir daher wollen, ist eine Revolution unseres Bildungssystems. Schluss mit Lernfabriken und Gebühren, Schluss mit dem Aussortieren nach der Herkunft, Schluss mit Turbo-Studiengängen und Turbo-Abitur! Investieren wir unseren Reichtum in die Potentiale der Menschen, in ihre Bildung und Entfaltung, in das uns Gemeinsame und unsere Kultur, nicht mehr in Luxusvillen und Luxusreisen, nicht mehr in Luxusautos, nicht mehr in den ganzen privaten Ersatzplunder.

Wir sind noch nicht verloren, wenn wir nicht vergessen, „dass die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem gehört“ (Jean-Jacques Rousseau, 1755). Doch die erste Umwelt jedes Menschen ist das Soziale, es ist das erste Klima das uns prägt. Darum gibt es ohne ein Ende der Ausbeutung des Menschen auch kein Ende der Ausbeutung der Natur. Was wir daher wollen, ist die gerechte Verteilung, ökonomische Selbstbestimmung und dezentrale Strukturen, stoffliche Kreisläufe zwischen Mensch und Natur, das Ende des fossilen Zeitalters und zu 100 Prozent erneuerbare Energien.

Wer die Anwendung von Gewalt als Mittel von Politik akzeptiert oder auch nur duldet, der/die hat eine gute Zukunft bereits aufgegeben. Daher werden wir nie mit dem Krieg unseren Frieden machen, ihn nie vorbereiten, dulden, akzeptieren oder gar verstehen. Wir sterben und töten nicht für Gott oder das Vaterland, nicht für unseren Reichtum und die Absatzmärkte der Konzerne, nicht für Rohstoffe und nicht für die Ehre oder die Nation.

Wir werden uns mit dem „Imperium der Schande“ (Jean Ziegler) nie arrangieren, nicht mit dem Hunger in der Welt, Unterdrückung, Rassismus und dem Ressentiment, nicht mit enttäuschten Idealen und bequemen Antworten, nicht mit der unerbittlichen Logik des einfachsten Wegs. Der Marsch einer Generation durch und in die Institutionen ist uns bei Weitem nicht genug. Darum begreifen wir über ein viertel Jahrhundert Geschichte unserer Partei für uns auch als Herausforderung der permanenten Erneuerung ihrer Programmatik, ihrer Identität und Moti-vation.

Wir verstehen uns daher auch als die HüterInnen unserer vier Grundsäulen, als ArbeiterInnen an ihrem Fundament. Ökologisch und sozial sind unsere Grundüberzeugungen, basisdemokratisch unsere Mittel und die Gewaltfreiheit in den menschlichen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und internationalen Beziehungen ist nach wie vor unser Ziel.

Was also, wenn nicht links? Weil wir wissen, dass der Ethos einer Gesellschaft sich daran bemisst, wie diese mit ihren Geringsten und ihren natürlichen Lebensgrundlagen umgeht, sind wir Wertkonservative. Weil wir wissen, dass die Menschen- und Bürgerrechte ohne die Garantie einer materiellen Basis nur leere Ideale bleiben, sind wir Menschen- und Bürgerrechtsliberale. Und eben weil wir wissen, dass die Zufälle des Marktes und der Herkunft solche Ungleichheiten und Ausgrenzungen schaffen, sind wir Linke.

Wer, wenn nicht wir? Eine neue Zeit verlangt neue Akteure, ein neues Sensorium, eine neue Sprache, eine neue Politisierung und neue Bündnisse. Ein solidarischer Individualismus verlangt nach einer allen gemeinsamen neuen Basis. Daher machen wir allen, die mit uns aufs freie Feld hinaus und aus der Industriegesellschaft heraus treten wollen, ein neues Angebot, den ÖkologInnen, den FreiberuflerInnen und Selbstständigen, den Friedensbewegten, den FeministInnen und MigrantInnen, den Prekarisierten, den Erwerbsarbeitslosen, den Kreativen und der digitalen Bohème.

Wann, wenn nicht jetzt? Nach dem Zeitalter des Neokonservativismus in der Innen- und Außenpolitik und des Neoliberalismus in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik, sehen wir uns mit der Gesamtlinken auch vor einer gemeinsamen neuen Aufgabe: die strukturelle linke Mehrheit im Land, von der einst Willy Brandt sprach, wieder zu realisieren.

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